Leo Ert

Verlegeort
Torstraße 216
Bezirk/Ortsteil
Mitte
Verlegedatum
Oktober 2014
Geboren
17. Februar 1879 in Hannover
Deportation
am 09. Dezember 1942 nach Auschwitz
Ermordet
in Auschwitz

Leonhard Ert wurde am 11. Februar 1879 in Hannover geboren. Er stammte aus einer großen Familie: Seine Eltern – der 1848 in Arnheim geborene Bäckermeister Emanuel und seine Ehefrau Henriette Ert, geb. Meijer – waren Mitte der 1870er-Jahren aus den Niederlanden nach Hannover gezogen, wo sie sich eine Wohnung am Klagesmarkt 21 nahe der Innenstadt nahmen. Der Klagesmarkt, der im Mittelalter als Richtstätte vor den Stadtmauern diente, wurde im 19. Jahrhundert zu einem beliebten Handelsplatz mit einem der größten Pferdemärkte Europas, einem „Pöttermarkt“ mit Topf- und Porzellanwaren sowie einem täglichen Obst- und Gemüsemarkt. Leonhards Vater betrieb dort eine Honigkuchenbäckerei, mit der er Stände vor Ort bestückte, aber auch Märkte in ganz Deutschland belieferte und sich bei der Kundschaft einen hervorragenden Ruf erarbeitete.

Leonhard (genannt Leo) wuchs im Kreis von acht Geschwistern auf, von denen sieben namentlich bekannt sind: Die Schwestern Bertha (*1877), Käthe (*1882) und Cilli Ert (*1884) sowie seine Brüder Joseph, Michael, Samuel und Max Emanuel (*1881). Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Leo und seinen Geschwistern in Hannover haben sich keine weiteren Quellen erhalten. Seine Eltern gehörten aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde Hannovers, die zum Zeitpunkt von Leos Geburt etwa 3.500 der rund 122.000 Einwohner zählte. Leo ergriff den Beruf seines Vaters und wurde ein auf Honigkuchengebäck spezialisierter Bäckermeister. In den 1900er-Jahren ging er nach Berlin, wo er am 10. September 1908 die aus Czersk (heute Polen) stammende Martha Olschinski heiratete. Seine Ehefrau war die Tochter von Johanna Olschinski, geb. Glas, und dem Bäckermeister Simon Olschinski. Dieser betrieb für die jüdische Gemeinde Adass Jisroel in Berlin zwei Bäckereien, die traditionelle Backwaren wie Matze (ungesäuerte Brotfladen) herstellten. Eine Filiale mit Verkaufsräumen befand sich zunächst in der Linienstraße in Mitte, später in der Neuen Schönhauserstraße 15 im Scheunenviertel. In der zweiten Bäckerei im Hinterhaus der Grenadierstraße 37 (heutige Almstadtstraße) unweit des Alexanderplatzes wurden die Backwaren in großer Stückzahl hergestellt. Leo Ert begann im Ladenbetrieb seines Schwiegervaters zu arbeiten und wurde Mitinhaber. Als sich sein Schwiegervater in den Folgejahren aus den Geschäft immer weiter zurückzog, übernahm er die Leitung des Betriebs, dessen Sortiment er um die aus seinem Elternhaus bekannten Honigkuchenerzeugnisse erweiterte, mit denen er sich schnell in Berlin einen Namen machte. In der Vorweihnachtszeit half die ganze Familie mit und verkaufte und versandte Lebkuchen an die Kunden. Am Vorabend von Pessach wurde in der Bäckerei von Mitgliedern der Gemeinde Adass Jisroel Matze gebacken. Mit seinen Backwaren belieferte Leo neben seinen Filialen auch Grossisten und war auf Jahr- und Weihnachtsmärkten vertreten, vor allem in Norddeutschland. Die Ert’schen Honigkuchen, die an großen Verkaufsständen unter anderem in Rostock, Stralsund, Greifswald, Oldenburg, Dresden, Bremen, Bremerhaven und Hamburg verkauft wurden, erfreuten sich großer Beliebtheit und viele Schausteller erinnerten sich auch nach dem Krieg noch lebhaft an den geschätzten Kollegen Leo Ert und sein Unternehmen. So gab der Oldenburger Honigkuchenbäcker Hermann Johnscher an, dass Herr Ert „stets einen Eckstand in der 1. Reihe auf dem Marktplatz auf der Lamberti-Kirche während des Kramermarktes innehatte.“ Der Vorsitzende des Bremer Schaustellervereins erinnerte sich, dass Leo Ert die Märkte in Rostock und Stralsund mit großen Marktständen mit einer Front von 12 Metern besuchte; die Schausteller in Hamburg bezeugten, dass er in den 1930er-Jahren den Dommarkt mit Honigkuchenerzeugnissen belieferte.

In Berlin nahm sich das Ehepaar Leo und Martha Ert nach ihrer Hochzeit eine Wohnung in der Zehdenicker Straße 14, in der zweiten Etage des dortigen Wohnhauses. Zwischen 1911 und 1922 kamen ihre Kinder Hans (*1911), Margot (*1912), Hilde (*1914), Joachim (*1916) und Hanni (*1922) zur Welt. Zwei weitere Kinder – Ruth (*1909) und Erwin Emanuel (1918–1920) verstarben im Säuglings- und Kleinkindalter. 

Max Ert, ein Bruder von Leo, hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Familie in Berlin niedergelassen und betrieb eine Metzgerei in der Droysenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg, die er bis 1933 um mehrere Filialen in der Hauptstadt erweiterte. Beide Brüder und ihre Familien zählten im Berlin der Weimarer Republik zum gutbürgerlichen Mittelstand: Die Kinder besuchten Volksschulen, das Schulwerk der Adass Jisroel am Monbijouplatz und andere Lehranstalten, und die älteren begannen nach ihrem Schulabschluss eigene berufliche Wege zu beschreiten: So nahm sich Leos Sohn Hans eine Wohnung in der Bachstraße 2 und begann in der Metallindustrie tätig zu sein. Die Familie Ert engagierte sich außerdem in der Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel, die Kinder waren Mitglieder in der jüdischen Jugendbewegung „Ezra“, besuchten Museen und beteiligten sich an weiteren Aktivitäten der Jugendbewegung. Freunde und Bekannte der Familie trafen sich gerne im Walhalla-Theater am Weinbergsweg, einem Gartencafé mit Tanzsaal und Aufführungen. Sonntags ging man manchmal in den Tiergarten, wo Leo mit seinen Söhnen Sport trieb. 

Wir waren eine jüdische Berliner Familie, die das Leben liebte,“ berichteten Familienmitglieder später. „Jeder hatte Träume und Pläne für die Zukunft. Die Männer spielten Fußball, besonders gern am Sonntag. Doch seit Ende 1933 war es unserer Familie, so wie allen anderen, nicht mehr möglich, so weiterzumachen. Wir mussten unsere Geschäfte schließen, mussten weg von den Universitäten.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Leo Ert und seine Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Ab 1933 waren die Erts außerdem als Geschäftsinhaber von antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin erfuhren. Bereits ab 1932/1933 konnte Leo seine Handelstätigkeit auf den Jahres- und Weihnachtsmärkten nicht mehr ausüben, da sein Betrieb aus rassistischen Gründen boykottiert wurde und er keine Standlizenzen mehr bekam. Er konzentrierte sich auf den Engros-Verkauf der in der Grenadierstraße erzeugten Backwaren. Doch auch dieses Geschäft litt zunehmend unter den Einschränkungen und Boykotten. 1932/1933 musste das Ehepaar Ert ihre langjährige Wohnung in der Zehdenicker Straße 14 aufgeben. Sie zogen in eine Vierzimmerwohnung in der Elsässer Straße 52 in Mitte (heute Torstraße). Ob Leo und Martha in den 1930er-Jahren Pläne verfolgten, Deutschland zu verlassen, geht aus den vorliegenden Zeugnissen nicht hervor; sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. 

Den Kindern Joachim, Margot und Hilde gelang zwischen 1932 und 1940 die Ausreise in das britische Mandatsgebiet Palästina. Margot bereits im Dezember 1932; Hilde, die nach ihrem Abitur als Sekretärin in Berlin gearbeitet hatte, 1935. Joachim gelangte 1940 als Schiffsbrüchiger der vor „Haifa“ nach einem Sprengstoffanschlag gesunkenen SS „Patria“ nach Palästina. Leos Tochter Hanni hatte sich mit Joachim 1939 im Umschulungs- und Einsatzlager am Grünen Weg in Paderborn auf die Auswanderung (Haschara) vorbereitet. Wegen einer Krankheit verzögerte sich der vorgesehene Transport, die Ausreise gelang ihr später nicht mehr. Sie heiratete 1940 den aus Posen stammenden Gerhard Ruschin, den sie in Paderborn kennengelernt hatte, und lebte mit ihm in der elterlichen Wohnung in der Elsässer Straße 52. Hans Ert arbeitete bis 1938 in der Metallindustrie, verlor dann aber seine Anstellung aus rassistischen Gründen. Er wurde 1940 zu Zwangsarbeit in den Siemenswerken verpflichtet, bis er 1942 in Berlin untertauchte und in der Illegalität weiterlebte. Leos Neffe Herbert (*1909), Sohn seines Bruder Max, tauchte in den 1940er-Jahren ebenfalls untergetaucht und hielt sich versteckt in Berlin auf.

Leo hielt in den 1930er-Jahren unter immer schwieriger werdenden Bedingungen sein Back- und Konditorgeschäft in Berlin aufrecht, hauptsächlich durch die Engros-Belieferung von Wiederverkäufern mittels der Backstube an der Grenadierstraße, in der er weiterhin ein bis zwei Angestellte beschäftigte. Ab Mitte der 1930er-Jahre diente die Filiale außerdem als „Backlehrstätte für junge Leute, die sich zur Auswanderung nach Palästina vorbereiteten“. Noch 1938 mietete Leo außerdem zeitweise ein Ladenlokal in der Flensburger Straße im Hansaviertel, in welchem Gebäck verkauft wurde. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ musste er Ende 1938 den Betrieb einstellen und wurde, vermutlich ab Anfang der 1940er-Jahre, zu Zwangsarbeit bei der Städtischen Straßenreinigung in Berlin herangezogen. Leos Tochter Hanni war Zwangsarbeiterin im Wernerwerk von Siemens & Halske, wo sie als Wicklerin tätig war. Ihr Ehemann Gerhard war Zwangsarbeiter im Barackenbau bei dem Unternehmen Willi Müller. In der Wohnung in der Elsässer Straße 52 waren zum Zeitpunkt der Volkszählung im Mai 1939 neben Leo und Martha ihre Tochter Hanni – ab 1940 mit ihrem Ehemann Gerhard Ruschin –, ihr Sohn Hans Ert, dessen erste Ehefrau Elli Ert, geb. Gimpel und deren Tochter Vivian Ert (*1938) sowie zwei jüdische Untermieter gemeldet. Vivian hat ab dem Zeitpunkt als ihr Vater in die Illegalität ging, bei den nichtjüdischen Eltern ihrer Mutter gelebt. Sie erinnerte sich später aber an Leo und Martha Ert: 

„Bevor das traurige Ende kam, nahm mich meine Mutter, Elli Ert, viele Male zu Besuch zu unseren Großeltern. Opa Leo war recht groß gewachsen und Oma war winzig, wenn sie neben ihm stand. Sie begrüßten uns mit einem Lächeln und mit offenen Armen. Oma nahm Mutti und mich in die Küche, wo ich mit Töpfen spielte, während sie meine Lieblingssüßigkeit zubereitete. Unser Opa las mir gerne eine Geschichte vor, während ich mit seiner Taschenuhr spielte.“

Spätestens ab den 1940er-Jahren wurde das Leben für die Familienmitglieder Ert in Berlin zum reinen Existenzkampf. Gesetze und Sondererlasse machten sie zu Rechtlosen im eigenen Land. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich gemäß der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 informierte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Leo, seine Ehefrau sowie Tochter Hanni und deren Ehemann Gerhard Ruschin erhielten den Deportationsbescheid im Winter 1942. Sie wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und von dort aus am 9. Dezember 1942 mit dem „24. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Der 63-jährige Leo Ert und die 61-jährige Martha Ert wurden vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports in Auschwitz ermordet. Auch Hanni und Gerhard Ruschin wurden entweder sofort, oder zunächst als Häftlinge in das Lager selektiert und später ermordet. In jedem Fall gehörte keiner der vier zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz.

Leos Töchter Margot, verh. Schneuer, und Hilde, verh. Sheeloh, überlebten genauso wie sein Sohn Joachim Ert die NS-Verfolgung im Exil in Palästina. Hans Ert gelang 1944 die Flucht aus Deutschland. Er erreichte mit falschen Papieren die italienische Grenze und überlebte in Mailand. Leos Neffe Herbert Ert wurde, nachdem er sich zwei Jahre in Berlin hatte verstecken können, bei einem Besuch eines Pferderennens von einem Gestapo-Informanten enttarnt und vor Ort verhaftet. Er wurde im April 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sein Vater Max Ert war bereits im August 1943 in Auschwitz ermordet worden. Leos Schwester Käthe Ert, verh. Reichstein, war 1938 nach Bentschen (Zbąszyń) deportiert worden und wurde 1942 im Vernichtungslager Belzec ermordet.