Dr. Rudolf Leonor Lesser

Verlegeort
Klingelhöfer Straße 18
Bezirk/Ortsteil
Tiergarten
Verlegedatum
06. Juni 2013
Geboren
08. Januar 1869 in Berlin
Deportation
am 23. Juli 1942 nach Theresienstadt
Ermordet
19. Januar 1943 in Theresienstadt

Rudolf Leonor Lesser wurde am 9. Januar 1869 als Sohn des Kaufmanns Julius Bernhard Lesser (1829–1876) und dessen Ehefrau Amalie Reichenheim, verh. Lesser (1843–1923), in Berlin geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war der preußische Landtagsabgeordnete und Mitbegründer der Nationalliberalen Partei Leonor Reichenheim (1814–1868); sein Großvater väterlicherseits der Dichter und Publizist Ludwig Lesser (1802–1867). Seine Eltern hatten 1862 in Berlin geheiratet und sich nach der Hochzeit eine gemeinsame Wohnung in der Victoriastraße 35 (heute überbaut, auf der Höhe Ben-Gurion-Straße 6) im Stadtteil Tiergarten genommen. Julius Bernhard führte ein Importwaren-Textilgeschäft für englische Stoffe, Garne und Twiste, dessen Kontor sich im Stadtzentrum, Am Kupfergraben 6a gegenüber der Museumsinsel befand. Mit dem Geschäft bestritt er den Unterhalt der Familie. Rudolf wuchs im Kreis von mindestens drei Geschwistern auf: Seine älteren Schwestern Gertrud und Cäcilie Dorothea waren 1863 und 1865 in Berlin zur Welt gekommen, die jüngere Schwester Else Bertha wurde 1870 geboren. 1866 war die Familie in eine größere Wohnung in die Bendlerstraße 26 (heute Stauffenbergstraße) auf dem Areal der ehemaligen Eisenfabrik Thomas gezogen.

Nach dem Tod des Vaters – Rudolf war damals erst sieben Jahre alt – bezog die Kaufmannswitwe Amalie mit ihren Kindern 1878 dieselbe Wohnung in der Victoriastraße 35, in der sie bereits gewohnt hatten, erneut. Die Familie zählte im kaiserzeitlichen Berlin – auch nach dem Tod des Vaters – zur wohlhabenden Bürgerschicht. Auf die Erziehung und kulturelle Bildung der Kinder wurde besonderer Wert gelegt, sie umfasste ein bildungsbürgerliches Spektrum, das von musikalischer Ausbildung über die Lektüre klassischer Literatur bis zu zeitgenössischer Kunst reichte. Früh dürfte auch Rudolfs Interesse für die exakten Wissenschaften durch Experimente, Analysen und Naturbeobachtungen gefördert worden sein. Den ersten Unterricht erhielt der Heranwachsende im elterlichen Haus und kam dann in eine Privatschule. Ab 1879 besuchte er das Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg (heute befindet sich die Ludwig-Cauer-Grundschule in dem Gebäude).

Nach seinem Gymnasialabschluss 1887 verschrieb sich der angehende Akademiker zunächst dem Studium der Literaturgeschichte und der Philologie. Drei Semester lang besuchte er Seminare in Berlin und in Freiburg im Breisgau, bevor er, durch außerfachliche Vorlesungen angeregt, das Fachgebiet wechselte und sich der Chemie zuwandte. Er studierte ein Semester in Zürich und wechselte dann im Herbst 1889 an die Universität Straßburg im Elsass, wo er bei den Chemikern Rudolph Fittig (1835–1910), Friedrich Rose (1839–1925) und Ludwig Wolff (1857–1919) lernte. Das Straßburger Institut war 1872 vom späteren Nobelpreisträger Adolf von Baeyer (1835–1917) gegründet worden, der zu organischen Farbstoffen und hydroaromatischen Verbindungen forschte, einem Gebiet, dem sich später auch Rudolf Lesser zuwandte. 1893 promovierte er an der Universität Straßburg mit einer Arbeit mit dem Titel Ueber die Einwirkung von Natriumaethylat auf das Phenylbutyrolacton. 1902 meldete Dr. Lesser ein erstes Patent zur Herstellung von salpetersäurehaltigen und halogenierten substituierten aromatischen Aminen an.

In der Familie von Rudolf gab es mehrere Naturwissenschaftler, die im Bereich der Chemie tätig waren. Seine Schwester Else Bertha heiratete 1892 den Berliner Chemiker Martin Freund (1863–1920), der ab 1895 das chemische Labor des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main leitete und 1914 eine Professur an der neugegründeten Universität Frankfurt annahm. Er war ein Vertrauter von Fritz Haber (1868–1934), mit dessen Ehefrau er verwandt war. Wie Rudolf Lesser arbeitete Martin Freund im Feld der aromatischen Kohlenwasserstoffe und fand ein Verfahren der Synthese von Polycarbonsäuren. Eine familiäre Verbindung hatte Rudolf außerdem zum Chemiker und Industriellen Franz Oppenheim (1852–1929), der ab 1907 der zweite Ehemann einer Schwester seines Schwagers Hugo Eisner war, der Rudolfs Schwester Gertrud 1883 geheiratet hatte. Oppenheim war als Chemiker für die Actien-Gesellschaft für Anilinfabrikation (Agfa) tätig, ab 1886 in die Geschäftsleitung berufen worden und er war außerdem maßgeblich an der Gründung der Farbenfabrik Wolfen beteiligt, deren Produktionsschwerpunkt auf der Herstellung von Azo-Farbstoffen lag und für die Rudolf später arbeiten sollte.

In diesem Umfeld forschte und arbeitete Rudolf in den 1910er- und 1920er-Jahren in Berlin. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Artikeln in Fachmagazinen, insbesondere im Bereich der Forschung an polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK), der Herstellung von synthetischen Farbstoffen und Pigmenten und der Aufbereitung und Reinigung von Erdöl mittels chemischer Verfahren. Dass er in der Forschung gut vernetzt war, zeigen eine Reihe von gemeinschaftlichen Arbeiten unter anderem mit den Chemikern Aczel Geza, Aladar Glaser, Richard Weiss, Georg Gad, Alice Mehrländer, A. Schoeller, Erich Kranepuhl und dem Charlottenburger Chemiker Dr. Christian Deichler, mit dem er 1905 ein patentiertes Verfahren zur Entfernung von schwefelhaltigen und schwefelfreien Verunreinigungen aus Erdöl fand. Bis Anfang der 1930er-Jahre entwickelte Rudolf Lesser eine Reihe von technischen Verfahren, die er patentieren ließ. Seine Arbeit war für die chemische Industrie Deutschlands, insbesondere im Bereich der Farbmittelherstellung, von beachtlicher Bedeutung. Seit den 1900er-Jahren war er unter anderem für die Farbwerke Hoechst AG, vorm. Meister, Lucius & Brüning tätig, arbeitete für die I. G. Farbenindustrie AG, deren amerikanische Tochterfirma General Aniline Works (GAW) Inc. und zuletzt als auswärtiger Mitarbeiter für die Agfa-Farbenfabrik Wolfen an der Produktion von Azofarbstoffen und anderen synthetischen Farbstoffen.

Ab 1912 lebte der Chemiker mit seiner verwitweten Mutter und seiner seit 1902 ebenfalls verwitweten Schwester Gertrud Eisner in einer Achtzimmerwohnung in der zweiten Etage der Von-der-Heydt-Straße 8 im Ortsteil Tiergarten. Seit dem Tod der Mutter 1923 teilten sich die Geschwister die Wohnung, wobei Rudolf ein Arbeitszimmer und ein Herrenzimmer im hinteren Korridor in Beschlag nahm. Die Wohnung war stilvoll nach dem Geschmack der Zeit eingerichtet, mit vielen Kunstgegenständen, Ziermöbeln und einer äußerst umfangreichen Bibliothek. Die Affinität zu Kunstgegenständen teilten die Geschwister mit ihrer Schwägerin Margarete Oppenheim, die zusammen mit ihrem Ehemann und unter Vermittlung des Berliner Kunsthändlers Paul Cassirer (1871–1926) eine der bedeutendsten Kunstsammlungen französischer Impressionisten aufgebaut hatte. In ihrer Villa am Großen Wannsee veranstaltete das Ehepaar Soiréen für einen künstlerisch ambitionierten Freundeskreis, zu dem auch Naturwissenschaftler wie Albert Einstein zählten. Im Jahr 1913 adoptierte Gertrud Eisner ein 1902 in Dortmund geborenes Mädchen namens Maria, das ab diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Wohnung in der Von-der-Heydt-Straße 8 lebte. Bei der Haushaltsführung ging dem Geschwisterpaar außerdem eine Hausangestellte zur Hand, die ein Zimmer in der Wohnung bewohnte. Rudolf blieb ledig und kinderlos. Beide Geschwister waren evangelisch getauft.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Rudolf Lesser und seine Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden, Anfang der 1930er-Jahre nahm die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zu. Ab 1933 institutionalisierte sich der Rassismus mit Hilfe staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Rudolf zunehmend in die Position eines Rechtlosen. Ob das Geschwisterpaar in den 1930er-Jahren Pläne verfolgte, Deutschland zu verlassen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre wurde das Leben für sie in Berlin zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich gemäß der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. In vorausschauender Umsicht überschrieb Gertrud Eisner im Oktober 1941 ihren Besitz an ihre nach NS-Kriterien „arische“ Adoptivtochter Maria Heinzmann und ihren ebenso „arischen“ Ehemann Kurt Walter Heinzmann (*1902). Die notariell beglaubigte Schenkung sollte später willkürlich ignoriert und das Vermögen – Wertpapiere, Kontoguthaben, Mobiliar und andere Wertgegenstände – zugunsten des Dritten Reiches eingezogen werden. Bis zum 1. April 1940 war Dr. Rudolf Lesser bei der I. G. Farbenindustrie A. G. als auswärtiger Mitarbeiter des Bitterfelder Werks Wolfen angestellt gewesen. Nach seiner Entlassung bezog er noch eine betriebliche Altersunterstützung, hatte darüber hinaus aber auch während seiner Tätigkeit in verschiedene – vornehmlich Berliner – Unternehmen aus seinem Arbeitsumfeld investiert und Kapitalvermögen für seine Altersvorsorge angespart. Er konnte ab Dezember 1938 allerdings nicht mehr frei über das Vermögen verfügen. Mit der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ war ein Depotzwang eingeführt worden, der Rudolf zwang, die Papiere an eine Devisenbank zu übertragen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 hatte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins informiert, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Rudolf Lesser und seine Schwester Gertrud Eisner erhielten den Deportationsbescheid im Sommer 1942. Sie wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und am 23. Juli 1942 mit dem sogenannten „28. Alterstransport“ in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Der zum Zeitpunkt der Deportation 73-Jährige überlebte die unmenschlichen Bedingungen in Theresienstadt nur wenige Monate, bevor er am 19. Januar 1943 ermordet wurde – entweder infolge direkter oder indirekter Gewalteinwirkung mittels absichtlicher Mangelernährung, verwehrter Medikamente, Kälte oder körperlichen Misshandlungen. Seine Schwester Gertrud Eisner wurde wenige Tage später, am 7. Februar 1943 in Theresienstadt ermordet. Zusammen mit dem Geschwisterpaar war auch ihre langjährige Hausangestellte, Johanna Löwenthal (*1879) nach Theresienstadt deportiert worden. Sie wurde am 16. Mai 1944 aus Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurde.

Von Rudolf Lessers Familienangehörigen überlebten nur wenige die NS-Verfolgung. Seine Schwester Else Bertha Lesser, verh. Freund, die Philosophiedozentin gewesen war und als Witwe in Frankfurt am Main gelebt hatte, wurde am 20. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert und ermordet. Seine Schwester, Cäcilie Dorothea, verw. Munde, hatte mit Else Bertha in einer gemeinsamen Wohnung gelebt und war am 25. Januar 1941 in Frankfurt verstorben. Gertrud Eisners Adoptivtochter Maria Heinzmann überlebte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern den Krieg und lebte später in Dortmund.