Hans Lindemann

Verlegeort
Dortmunder Straße 9
Bezirk/Ortsteil
Moabit
Verlegedatum
10. Juni 2024
Geboren
23. Februar 1908 in Berlin
Beruf
Konstrukteur
Deportation
am 26. Februar 1943 nach Auschwitz
Ermordet

Hans Heymann Lindemann war laut einer Rot-Kreuz-Karte von 1949 Konstrukteur, und das ist alles, was ich über sein Leben vor seiner Deportation herausfinden konnte. So viel von unserer Familiengeschichte ist ausgelöscht worden.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs musste Hennys Tochter Marianne als Zwangsarbeiterin für die deutsche Flugzeugfirma Heinrich Lehmann Aerobau, die Zubehör für deutsche Kriegsflugzeuge herstellte, in einer Werkstatt in der Bergmannstraße 102 arbeiten. Lehmann hatte etwa 20 jüdische Arbeiter und wurde in Nürnberg wegen der Beschäftigung von Zwangsarbeitern als Kriegsverbrecher verurteilt und verbrachte etwa 5 Jahre im Gefängnis.  

Henny Simon wurde am 12. Januar 1943 im Alter von 62 Jahren nach Auschwitz deportiert. Ihre Tochter musste ihr an der Wohnungstür zum Abschied winken, als die Gestapo sie abholte, da sie zweifellos ahnte, was mit ihrer Mutter geschehen würde.

Henny war die Nummer 376 auf der Passagierliste des 26. Osttransports - so nannte man die Züge mit Viehwaggons als Waggons, mit denen Juden in die Lager gebracht wurden. Er fuhr vom Bahnhof Putlitzstraße in Moabit ab und kam am nächsten Tag in Auschwitz an.  Es befanden sich etwa 1.200 Juden darin. Gleich nach der Ankunft fand eine Selektion statt - nur 127 Personen wurden zur Arbeit ausgewählt, die restlichen 898 wurden direkt in die Gaskammern geschickt. Auf der Transportliste gibt es eine Liste von Fakten, die auszufüllen sind - Alter, Adresse und eine Zeile für "arbeitsfähig". Bei Hennys Eintrag steht ein Minuszeichen daneben, was bedeutet, dass sie nicht arbeitsfähig war - wir können also davon ausgehen, dass sie ermordet wurde, sobald sie in Auschwitz ankam.

Fünf Wochen nach Hennys Deportation wurden Marianne und Hans zu einem Sammelplatz in Berlin beordert, von wo aus sie deportiert wurden. Bevor die Nazis Juden ermordeten, raubten sie ihnen auf akribische und bürokratische Weise ihr Eigentum. Am 17. Februar, sechs Tage vor ihrer Deportation, schickte die Berliner Finanzverwaltung Beamte in die Wohnung von Marianne und Hans, um eine Vermögenserklärung zu erstellen. Diese Vermögenserklärung gibt uns ein paar weitere Details über ihr Leben. Auf dem Formular von Hans Lindemann steht auf die Frage, ob er Anspruch auf Lohn, Verpflegung, Renten oder Verträge hat, "Lohn für 17 Tage". Die Nazibeamten gingen von Zimmer zu Zimmer und machten ein Inventar aller Habseligkeiten von Henny und Marianne. Sie besaßen 2 Schränke, 4 Stühle, eine Couch, 2 Teppiche, 3 Nachttischdecken, 2 Deckenlampen, einen Schreibtisch, ein Bücherregal, etwa 100 Bücher, 1 Wörterbuch, keine Kunstwerke oder Antiquitäten und keine Aktien oder Wertpapiere.
Aus Mariannes Vermögenserklärung geht hervor, dass sie als Einzige ein Bankkonto bei der Dresdner Bank besaß, auf dem nur etwa 40 Mark lagen. Man schuldete ihr einen Wochenlohn.  

Zwei Tage vor der Deportation warteten Hans und Marianne bereits in der Sammelstelle, dem jüdischen Gemeindezentrum in der Großen Hamburger Straße 26, wo sich heute eine Gedenkstätte befindet. Ein Nazi-Justizbeamter suchte sie auf und überreichte ihnen ein demütigendes Dokument, das sie unterschreiben mussten und das die Übertragung ihres gesamten Vermögens und Besitzes an den Staat vorsah.

Ein Überlebender des Holocaust, der mit Marianna und Hans deportiert wurde. Dagobert Zymentstein, geboren 1910, erinnerte sich an seine Verhaftung - auch er war Zwangsarbeiter, so dass wir uns vorstellen können, dass es ihm ähnlich erging wie Marianne. "Ich wurde an einem Samstag im Jahr 1943 von der Gestapo an meinem Arbeitsplatz in Berlin bei der Firma Container & Tubes verhaftet. Die Gestapo kam mit einem Lastwagen. Ich und andere Kollegen wurden aufgefordert, einzusteigen. Wir wurden in ein Sammellager gebracht. Im Durchschnitt waren etwa 40 Personen in einem Raum von etwa 25 m² untergebracht. Wir mussten auf dem nackten Holzboden schlafen, ohne Matratzen oder Decken. Für jeweils 40 Personen gab es eine Toilette. Es gab ein Waschbecken. Handtücher und Seife waren nicht vorhanden. Das Essen bestand aus einer Schüssel Suppe mit einer Scheibe Brot pro Tag. Diese wurde morgens gegen 11.00 Uhr ausgeteilt. Eine medizinische Versorgung gab es nicht. Während eines Luftangriffs mussten wir in den Zimmern bleiben. Der Raum war verschlossen und bewacht.  Ich weiß von Fällen, in denen Männer, Frauen und auch Kinder in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster sprangen. Ich habe auch beobachtet, wie Häftlinge auf dem Deportationsplatz von Angehörigen der SS und der Gestapo mit Gewehrkolben und Fäusten geschlagen wurden. Beschimpfungen wie 'Jude', 'Dreckschwein' waren nichts Neues."

Am 24. Februar 1943 wurden Marianne und Hans mit dem 30. Ost-Transport deportiert. Marianna war 29 Jahre alt. Hans hatte gerade am Vortag seinen 25. Geburtstag gefeiert. Der Zug verließ den Moabiter Güterbahnhof mit 913 Juden an Bord.  Als die Viehwaggons von ihrer menschlichen Fracht entladen wurden, erinnert sich Zymentstein: "Wer sich nicht schnell genug bewegte, wurde von den SS-Männern mit der Peitsche geschlagen oder anderweitig geprügelt. Auch Schäferhunde wurden auf die Gefangenen gehetzt".

Es fand eine sofortige Selektion statt, und 156 Männer und 106 Frauen wurden für die Zwangsarbeit ausgewählt - darunter sicherlich Hans und wahrscheinlich auch Marianne, da beide auf der Transportliste als arbeitsfähig beschrieben werden. Die übrigen 651 Juden wurden direkt in die Gaskammern geschickt. Nur 11 Personen aus diesem Transport überlebten den Krieg.

Zurück in Berlin konnten arische Bürger, die durch die Deportation der Juden finanziell geschädigt wurden, eine Entschädigung vom Staat verlangen. Am 14. März 1943 reichte der Vermieter von Marianne und Hans bei der Berliner Finanzverwaltung eine Forderung ein - da "die Juden Simons aus der Wohnung evakuiert wurden", schuldete er 55 Mark Miete. Eine weitere Forderung wurde von den Berliner Elektrizitäts- und Lichtwerken eingereicht. Im September 1943 schrieb das Berliner Finanzamt an Mariannes Bank und forderte sie auf, die 40 Mark auf ihrem Konto auszuhändigen. Auch an ihren Arbeitgeber Heinrich Lehmann wurde ein Schreiben gerichtet, in dem sie für den Staat die ihr zustehenden 2 Wochenlöhne einforderte.

Wir wissen nicht, wann Marianne in Auschwitz gestorben ist, aber für Hans Lindemann gibt es Details. Er erscheint auf einer Namensliste des Häftlingskrankenhauses für die erste Aprilwoche 1943, also nur 6 Wochen nach seiner Ankunft in Auschwitz. Dort heißt es, dass er an Durchfall erkrankt war, was auf Cholera hindeuten könnte - in Auschwitz gab es in den Jahren 1942 bis 1943 zahlreiche Epidemien.

Andere Mitglieder der Familie von Hans Lindemann konnten entkommen. Seine Schwester Johanna ging nach London und wohnte 1947 in der Park Avenue NW11, als sie beim Roten Kreuz eine Anfrage über ihren Bruder stellte. 1959 beantragte eine Frau namens Charlotte Bloch, die als "Schwester" bezeichnet wird (es ist nicht klar, ob sie die Schwester von Hans oder Marianne ist), eine Entschädigung durch den deutschen Staat. 1958 beantragte eine Frau namens Adelheid Peschke, wohnhaft in Berlin in der Wuthenowstraße 4, Entschädigungszahlungen sowohl für Hans Lindemann als auch für Pauline Lindemann, letztere 1871 in Warschau geboren. Pauline war sicherlich die Mutter von Hans Lindemann, die am 17. April 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurde.