Johanne Lilienthal geb. Beckmann

Verlegeort
Bornstr. 1
Bezirk/Ortsteil
Friedenau
Verlegedatum
30. April 2024
Geboren
03. Dezember 1900 in Hesepe (Bezirk Osnabrück)
Beruf
Stenotypistin und Kontoristin
Flucht
1939 mit jüdischem Ehemann nach Shanghai
Überlebt

Johanne Beckmann wurde am 3. Dezember 1900 in Hesepe (Bezirk Osnabrück) geboren.  Sie stammte aus einer evangelischen Familie. 
Johanne war als Stenotypistin und Kontoristin  berufstätig. Am 12. Mai 1923 heiratete sie in Aachen den Speditionskaufmann Alfred Lilienthal , geboren am 4. Dezember 1889, der aus einer jüdischen Familie in Minden stammte.  Alfred Lilienthals Vater Bruno war Leiter einer Bank in der Lindenstr. 29  in Minden. Alfred Lilienthal war bei der Transportfirma Winkler & Fischer angestellt, die im Raum Aachen, aber auch in anderen Städten Niederlassungen hatte. 1923 entsandte die Firma Alfred Lilienthal 1923 nach Berlin , um das dortige Büro zu leiten. 
So zog das interkonfessionalle Ehepaar Johanne und Alfred Lilienthal nach ihrer Heirat nach Berlin, wo sie zunächst in der Kommandantenstr. 56  lebten. Alfred Lilienthal machte in den folgenden Jahren einen guten beruflichen Aufstieg: 1924 wechselte er mit Empfehlung seiner bisherigen Firma als Büroleiter zur international tätigen Transportgesellschaft "Transkosmos". 1927 bezog das Ehepaar eine "eigene" Mietwohnung in der Belziger Str. 5 in Schöneberg, unter der sie ab 1928 im Berliner Adressbuch standen.
1932 Ging Alfred als Geschäftsführer zur "Transhollandia Internationale Transportgesellschaft".  Offenbar ermöglichte dieser Karrieresprung finanziell den Umzug in eine Vier-Zimmer-Wohnung in das repräsentative Wohn- und Geschäftsgebäude Bornstraße 1 in Friedenau. 

Am 10. Juni 1930 war die Tochter Eva geboren worden. 

Aber die ab 1933 zunehmenden Repressalien gegen Juden bekam auch Familie Lilienthal zu spüren. Zwar wurde Johannes jüdischer Ehemann Alfred 1935 noch  mit dem von Reichpräsident Hindenburg gestifteten "Ehrenkreuz für Frontkämpfer" für seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Aber schon 1937 änderte sich das Leben von Johanne und ihrer Familie dramatisch: Alfred Lilienthal wurde als Geschäftsführer von seinem Arbeitgeber  zunächst freigestellt und am 1. Juni 1938 endgültig gekündigt. Grundlage hierfür war der am 31.05.1938 ergangene Erlass des Reichswirtschaftsministeriums, wonach keine Aufträge mehr an Juden/jüdische Unternehmen vergeben werden durften. 

1936 feierte die Familie noch die Einschulung von Tochter Eva in die Rheingauschule in Friedenau - aber schon zwei Jahre später - 1938 - wurde der achtjährigen Eva wurde der Schulbesuch untersagt. 

Unmittelbar nach den Pogromen am 9. November 1938 wurde Johannes jüdischer Ehemann Alfred verhaftet und im KZ Sachsenhausen interniert. Nach der Entrichtung einer Reichsfluchtsteuer und der Judenvermögensabgabe in erheblicher Höhe wurde er im Dezember 1938 aus der Haft entlassen. Aber es gab die Auflage, sich schnellstens aus Deutschland zu entfernen. 
So bestieg Johanne mit ihrem Ehemann und der knapp neunjährigen Eva  am 18. April 1939 in Bremerhaven den Dampfer „Scharnhorst“ mit Ziel Shanghai – das war der einzige Ort, der für Juden ohne Visum erreichbar war. Alfred Lilienthal hatte als Ankunftsadresse Melchers & Co., 210 Kiukiang Road, P.O.B. 1004 angegeben. Die Kiukiang Road – heute Jiujiang Road – galt in den 1920er Jahren als Handelszentrum europäischer Unternehmen und Banker und wurde als „Wallstreet of the East“ betrachtet. 

Zwischen 1938/39 bis ca. 1941 flohen 17.000 - 20.000 Juden aus Europa nach Shanghai, darunter etwa 7.000 deutsche Juden. Unbekannt ist, wieviele nichtjüdische Ehepartnerinnen und Kinder in Begleitung dieser Flüchtlinge waren. 
 Soweit bekannt, wohnte Familie Lilienthal zunächst unter einer gemeinsamen Adresse. Die Lebensverhältnisse waren geprägt von Armut und Schmutz. An einen geordneten Schulbesuch für Tochter Eva war nicht zu denken. 1943 richtete die japanische Besatzungsmacht im Stadtbezirk Hongkou ein Ghetto ein, in dem sich – neben zusätzlich zu etwa 100.000 Chinesen – auch alle seit 1938 angekommenen , aus Deutschland ausgebürgerten jüdischen Flüchtlinge und weitere Staatenlosen aufhalten mussten.  
Johanne und Tochter Eva lebten nun getrennt von Alfred Lilienthal, der das Ghetto nicht verlassen durfte.
1943 wurde Johanne vom Deutschen Generalkonsulat die Ehescheidung nahegelegt, verbunden mit dem Angebot, dann nach Deutschland zurückkehren zu können. Sie lehnte ab und blieb mit Tochter Eva in Shanghai. Das protestantisch-jüdische Ehepaar Alfred und Johanne Lilienthal hat sich nie scheiden lassen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahmen 1945 die Amerikaner das Kommando in Shanghai und lösten das Ghetto auf.  Familie Lilienthal wollte nach Deutschland zurückkehren. Im Dezember 1950 konnten Johanne Lilienthal und ihre Tochter Eva Shanghai mit dem Schiff nach Hamburg verlassen. Alfred konnte erst Ende Dezember ausreisen und wurde nach seiner Ankunft in Deutschland im Januar 1951 -ohne deutschen Pass - als "displaced person"  zunächst in das Lager Föhrenwald in Bayern eingewiesen. 
Johanne entschied sich nach ihrer Ankunft in Deutschland, mit ihrer Tochter Eva nach Wiesbaden zu gehen. Dort hatte ihr Verlobter, den sie während der Heimreise kennengelernt hatte, Arbeit bei der US-Air Force gefunden. Auch Eva, die recht gut Englisch sprach, wurde eine Anstellung angeboten.  Das Paar heiratete 1954 . Johannes erstes Enkelkind - Peter - wurde 1955 geboren.  1956 wanderte Johanne mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und dem einjährigen Peter nach Kanada aus.

Johannes Ehemann Alfred  kehrte nach seiner Entlassung aus dem Lager Föhrenwald nach Berlin zurück. 
Johanne und Eva blieben zeitlebens in engem Kontakt mit Alfred und reisten auch von Kanada zu Besuchen nach Berlin. 
Johanne starb am 30. Juni 1970 in Kanada, nur drei Wochen nach dem Tod ihres Ehemannes Alfred.