Hildegard Baer geb. Meyer

Verlegeort
Motzstraße 19
Bezirk/Ortsteil
Schöneberg
Verlegedatum
29. Juni 2021
Geboren
20. März 1915 in Berlin
Zwangsarbeit
Feinmechanik (Siemens & Halske, Wernerwerk M)
Deportation
am 19. Oktober 1942 von Levetzowstraße 7/8 nach Riga
Ermordet
22. Oktober 1942 in Skirotava bei Riga

 Hildegard geb. Meyer wurde am 20. März 1915 in Berlin geboren und war das einzige Kind von Willy Meyer und Helene geb. Oppenheim. Der Vater besaß die Firmen „W.Meyer & Comp.“ (Parfümerie en gros) und Hermann Meyerson (Papier en gros). Er handelte mit vielfältigen Produkten. Seine Ehefrau Helene war als Prokuristen voll eingebunden in die Geschäfte. Sie wohnen in der Freisinger Straße 13. Bestimmt wurde ihr einziges Töchterchen wie ein Augapfel von ihren Eltern behütet. Aber wie sehr wird sich das Leben der Familie ab 1933 verändert, verschlechtert haben. 

Die Hochzeit von Alfred Baer und Hildegard Meyer wurde vermutlich im September 1937gefeiert, denn ab da ist Alfred Baer als Haushaltsvorstand in einer Wohnung in der Motzstraße 40, 3. Stock, registriert. Ganz in der Nähe lebte der Bruder Adolf Schüller mit seiner Familie und der Mutter Selma und in der Nr. 19 Amalie Oppenheim, Hildegards alte, aber wohl noch rüstige Großmutter. Hildegards Eltern wohnten auch recht nahe. 

Aber was war das für eine „Wohnung“ in der Motzstraße 40? Sie bestand aus einem einzigen Zimmer mit Bad und Küche. Mehr wurde Juden damals vermutlich gar nicht vermietet, und in diesen Notzeiten hatte bestimmt auch Geld für eine größere Wohnung nicht gereicht. Es gab ja so gut wie keine Einnahmen mehr.

Am 7. Juli 1938 kommt das Töchterchen Eva Marion zur Welt. Aber in welch eine schreckliche Zeit hinein wird das Mädchen geboren. Wie grausam die Zeiten werden, hatte niemand geahnt oder sich vorstellen können. Von den Schrecken der Reichspogromnacht hat der erst vier Monate alte Säugling noch nichts mitbekommen, aber bestimmt hat Eva Marion die unvorstellbare Angst der Mutter gespürt. Geborgenheit und Zuversicht konnte sie ihr in dieser Situation sicherlich nicht vermitteln. 

Was Alfred und Hildegard erlitten haben, lassen die Erinnerungen von Alfreds Nichte erahnen. Diese wurde als 5-Jährige zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Ende 1938 in einem Kindertransport nach England geschickt. Ihre schrecklichen Beobachtungen behielt sie lebenslang im Gedächtnis:

„Eines ihrer letzten eindrücklichen Erinnerungen aus der Zeit, ehe sie Deutschland verlassen hatte, war, wie Menschen um ihr Leben gerannt waren. Was am meisten in ihrem Gedächtnis blieb, war das Bild von Freddie, dem Bruder ihres Vaters, wie er vom Haus weggezerrt wurde, um ermordet zu werden.“

Mindestens bis Ende 1938, muss Alfred fort gewesen sein, da seine Nichte nicht wusste, dass er zu dieser Zeit noch gelebt hatte. Ob er im KZ Sachsenhausen interniert war? Welche Schrecken, Erniedrigungen, Brutalitäten, wie viel Hunger wird er während der Gefangenschaft, egal wo, erlitten haben. Nicht vorstellbar, welche Sorgen die Ehefrau und junge Mutter gequält haben, aber ebenso die betagte Mutter Selma und all die anderen Verwandten. Sie bekamen ja keinerlei Nachricht, was mit ihrem Mann bzw. Sohn geschehen war.

Vermutlich wird Alfred irgendwann im neuen Jahr wieder heimgekommen sein, ausgehungert und leidend an Leib und Seele. 

Wie viel vergebliche Mühe werden Alfred und Hildegard investiert haben, um ihr Leben und das ihrer Angehörigen zu retten. Alfreds älterem Bruder Adolf gelang mit seiner Frau etwa im März 1939 nach England zu ihren Kindern zu kommen. Ob er seinen Bruder noch einmal gesehen hatte? Jetzt musste die alte Mutter Selma bei ihnen unterkommen – in der Ein-Zimmer-Wohnung unmöglich.

Hildegard zog mit ihrer Tochter zu ihrer Großmutter Amalie Oppenheim in die Motzstr. 19. Diese hatte zwar eine größere Wohnung, aber „arische“ Untermieter hineingesetzt bekommen, die sich dort sicherlich sehr breit gemacht hatten. So versuchten Alfred und Hildegard wohl, die alten Menschen zu beschützen. 

Aber die beiden alten Frauen mussten sich auch um die kleine Eva Marion kümmern. Denn Alfred und Hildegard wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Der Kaufmann Alfred Baer war als Arbeiter bei der Fa. Dr. Kolshorn eingesetzt. Hildegard, die bisher sicherlich keinen Beruf ausgeübt hatte, musste bei Siemens & Halske arbeiten. Die Firma Dr. Kolshorn war ein Straßen- und Holzpflasterunternehmen. Welch ungewohnte, körperlich schwere Arbeit wurde da von Alfred gefordert.

Bei Siemens im Wernerwerk M wurden „frauenspezifische“ feinmechanische Tätigkeiten von den Arbeiterinnen gefordert. Lange wird ihre tägliche Arbeitszeit gedauert haben. Dazu kam noch der weite Weg zum Arbeitsplatz – und das Alles bei der katastrophalen Ernährungssituation. Geld für ihre Arbeit bekamen sie auch nur sehr wenig, wenn der Lohn überhaupt in voller Höhe ausbezahlt wurde.

Im September 1942 wurde Alfreds Mutter Selma nach Theresienstadt deportiert. Wie schlimm muss der Abschied gewesen sein. Es wird Allen das Herz zerrissen haben, aber zeigen durften sie es nicht. Etwa vier Wochen danach bekam auch die junge Familie die Aufforderung, sich für die „Umsiedelung“ bereit zu machen. Bedrückend sind die Dokumente aus dieser Zeit. Nachdem den Menschen bereits ihre Würde, dazu all ihr Hab und Gut genommen worden war, müssen die Opfer selbst noch ihr letztes bisschen Haushalt bürokratisch korrekt abwickeln. Es geht darin hauptsächlich nur darum, wie viel Geld aus dem Besitz an den Staat fallen wird. Ihnen blieb nichts mehr, als was sie am Leib trugen.

Mitte Oktober wurden Alfred, Hildegard und Eva Marion in das Sammellager in der Leve-tzowstraße 7/8 gebracht. Dies war die bisherige Synagoge im Bezirk Tiergarten, bei der die Bestuhlung entfernt und Stroh zum Schlafen ausgestreut worden war.

Am 19. Oktober 1942 wurden die fast 1000 Menschen zum Bahnhof Moabit Gleis 69 getrieben. Das Töchterchen musste bestimmt viel getragen werden, um mit ihren kleinen Beinen mitzukommen. Aber wie schwer ist doch ein 4-jähriges Kind. Niemand sagte den Menschen, wohin es gehen wird – zum Arbeitseinsatz in den Osten, hieß es zynisch. Am Bahnhof wartete ein Zug aus alten, ausrangierten Personenwagen auf den 21. Osttransport Berlin-Moabit nach Riga.

Die vielen Menschen wurden unter Gebrüll der SS in die Waggons gedrängt. Die Menschen wussten nicht, wohin sie gebracht werden. Fast 1300 km liegen vor ihnen, drei lange Tag und Nächte dauerte diese Fahrt in den Tod. Bis Bydgoszcz/Bromberg im besetzten Polen, etwa 400 km von Berlin entfernt, soll es relativ erträglich gewesen sein. Die Menschen durften dort Wasser holen; aber jetzt hatte die SS zugeschlagen.

Es liegen noch fast 1000 km vor den Menschen. Da gab es keinen Halt mehr, um Wasser zu holen. Auf freier Strecke blieb der Zug zwar immer wieder stehen, aber aussteigen durfte niemand. Türen und Fenster der Waggons waren verschlossen, um Fluchten vorzubeugen, und einen Korridor von Waggon zu Waggon gab es nicht. Die Fahrt fast ohne Bewegungsmöglichkeit war eine Tortur. Es gab keine Waschgelegenheit, und die Toiletten werden verstopft gewesen sein. Wie apathisch wird das kleine Mädchen in dieser Zeit geworden sein.

Abends am 22. Oktober 1942 erreichte der Berliner Transport den Bahnhof Skirotava, etwa 8 km südöstlich von Riga, der stark bewacht war. Bei der Ankunft wurden die Erschöpften mit Schlägen und Beleidigungen begrüßt. Die Menschen, deren Glieder von der langen Fahrt und vor Kälte steif geworden waren, wurden mit Schlägen, Beschimpfungen und Gebrüll aus dem Zug getrieben. Die meisten von ihnen, darunter die Familie Baer, wurden sofort in die umliegenden Wälder gebracht und erschossen. 

Dieses Morden dort war schrecklich geplant: 

„Zur Vorbereitung des Massenmords waren im Wald von Rumbula Gruben ausgehoben, die jeweils 24 Meter lang und ca. 3 Meter breit waren und in die insgesamt ca. 25.000 Leichen passen sollten. An jeder Grube standen sechs Maschinenpistolenschützen, die wegen Überanstrengung alle Stunden abgelöst wurden. Die kilometerlange Schlange rückte schrittweise näher – es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn die Menschen näherkamen, dann sahen sie, was dort vor sich ging. Und dann, ein Stückchen weiter, mussten sie sich ausziehen und 500 Meter vor dem Wald vollkommen ausziehen, durften nur Hemd oder Schlüpfer anbehalten. Sie mussten sich dann in die Grube legen, auf den Bauch, Kopf zur Mitte. Dann wurden sie mit Schüssen in den Hinterkopf ermordet. Die nächste „Schicht“ musste sich in gleicher Weise auf die Leichen legen und sie ereilte dasselbe Schicksal. Damit nicht so viel Platz verloren ging, mussten sie sich „schön“ schichten. So ging es, bis eine Grube voll war.“ 

Durfte Eva Marion wenigsten im Sterben geborgen bei der Mutter sein? Der 44-jährige Alfred, die 27-jährige Hildegard und die 4-jährige Eva Marion wurden erniedrigt, gedemütigt und schließlich im Wald bei Riga umgebracht, nur weil sie Juden waren.