Martha Ert née Olschinski

Location 
Torstraße 216
District
Mitte
Stone was laid
October 2014
Born
09 September 1881 in Czersk
Deportation
on 09 December 1942 to Auschwitz
Murdered
in Auschwitz

Martha Olschinski wurde am 9. September 1881 in Czersk geboren. Die damals westpreußische Kleinstadt liegt am Ostrand der Südpommerschen Seenplatte und gehört heute zu Polen. Martha war die Tochter des Bäckermeisters Simon und dessen Ehefrau Johanna Olschinski, geb. Glas. Sie hatte mindestens eine Schwester, Lina. Über das Elternhaus, die Kindheit und Jugend von Martha und ihrer Schwester in Czersk haben sich keine weiteren Quellen erhalten. Ihre Eltern gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach zur kleinen jüdischen Gemeinde des Orts, die 1857 offiziell gegründet worden war und zu der – laut einer Zählung im Jahre 1885 – 229 der rund 2100 Einwohner zählten.

Um die Jahrhundertwende zogen die Olschinskis nach Berlin, wo Marthas Vater für die jüdische Gemeinde Adass Jisroel eine Bäckerei in der Linienstraße eröffnete, die später in Räumlichkeiten in der Neuen Schönhauserstraße 15 umzog. Außerdem leitete er eine Bäckerei im Hinterhof der Grenadierstraße 37 (heute Almstadtstraße), in der die Backwaren hergestellt wurden. Am 10. September 1908 heiratete Martha den aus Hannover stammenden Leonhard Ert, Leo genannt. Leo war der Sohn des auf Honigkuchengebäck spezialisierten Bäckers Emanuel und dessen Ehefrau Henriette Ert, geb. Meijer, die aus den Niederlanden nach Hannover gezogen waren und sich dort mit einem Bäckereibetrieb einen Namen gemacht hatten, der auf Belieferung und Verkauf von Honigkuchengebäck auf großen Weihnachts- und Jahrmärkten in ganz Deutschland spezialisiert war. Die Ert’schen Honigkuchen waren bereits auf dem Markt etabliert, als Leo die Grundlagen des Berufs von seinem Vater erlernte und nach Berlin ging. 

Nach der Hochzeit nahm sich das Ehepaar eine Wohnung in der Zehdenicker Straße 14 in Mitte, in der zweiten Etage des dortigen Wohnhauses. Zwischen 1911 und 1922 kamen ihre Kinder Hans (*1911), Margot (*1912), Hilde (*1914), Joachim (*1916) und Hanni Ert (*1922) zur Welt. Zwei weitere Kinder, Ruth (*1909) und Erwin Emanuel (1918*), verstarben im Säuglings- oder Kleinkindalter. Marthas Ehemann begann im Ladenbetrieb ihres Vaters zu arbeiten und wurde Mitinhaber. Als sich Simon Olschinski in den Folgejahren immer weiter aus dem Geschäft zurückzog, übernahm Leo die Leitung des Betriebs, dessen Sortiment er um die aus seinem Elternhaus bekannten Honigkuchenerzeugnisse erweiterte. Er führte auch die Tradition des Verkaufs auf Märkten fort: Seine Honigkuchenerzeugnisse, die an großen Verkaufsständen unter anderem in Rostock, Stralsund, Greifswald, Oldenburg, Dresden, Bremen, Bremerhaven und Hamburg verkauft wurden, erfreuten sich großer Beliebtheit bei der Kundschaft. Martha kümmerte sich um Haushalt und Kinder und half, wo sie konnte. In der Weihnachtszeit wurde die ganze Familie beim Verkauf und beim Versand von Lebkuchen an die Kunden eingespannt. Am Vorabend des Pessach wurde in der Bäckerei von Mitgliedern der Gemeinde Adass Jisroel Matze gebacken.

Die Erts zählten im Berlin der Weimarer Republik zum gutbürgerlichen Mittelstand: Die Kinder besuchten Volksschulen, das Schulwerk der Adass Jisroel am Monbijouplatz und andere Lehranstalten, und die älteren begannen nach ihrem Schulabschluss eigene berufliche Wege zu beschreiten: So nahm sich Marthas Sohn Hans eine Wohnung in der Bachstraße 2 und begann in der Metallindustrie tätig zu sein. Die Familie Ert engagierte sich außerdem in der Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel, die Kinder waren Mitglieder in der jüdischen Jugendbewegung „Ezra“, besuchten Museen und beteiligten sich an weiteren Aktivitäten der Jugendbewegung. Freunde und Bekannte der Familie trafen sich gerne im Walhalla-Theater am Weinbergsweg, einem Gartencafé mit Tanzsaal und Aufführungen.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Martha Ert und ihre Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Seit 1933 waren die Erts außerdem als Geschäftsinhaber von antisemitischen Kampagnen, Boykotten und Ausschreitungen betroffen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in den Pogromen im Juni und November 1938 in Berlin erfuhren. Bereits ab 1932/1933 konnte Leo seine Handelstätigkeit auf den Jahres- und Weihnachtsmärkten nicht mehr ausüben, da sein Betrieb aus rassistischen Gründen boykottiert wurde und er keine Standlizenzen mehr bekam. Er konzentrierte sich auf den Engros-Verkauf der in der Grenadierstraße erzeugten Backwaren. Doch auch dieses Geschäft litt zunehmend unter den Einschränkungen und Boykotten. 1932/1933 musste das Ehepaar Ert ihre langjährige Wohnung in der Zehdenicker Straße 14 aufgeben. Sie zogen in eine Vierzimmerwohnung in der Elsässer Straße 52 in Mitte (heute Torstraße). Ob Martha und Leo in den 1930er-Jahren Pläne verfolgten, Deutschland zu verlassen, geht aus den vorliegenden Zeugnissen nicht hervor; sollten sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese.

Den Kindern Joachim, Margot und Hilde gelang zwischen 1932 und 1940 die Ausreise in das britische Mandatsgebiet Palästina. Margot bereits im Dezember 1932; Hilde, die nach ihrem Abitur als Sekretärin in Berlin gearbeitet hatte, 1935. Joachim gelangte 1940 als Schiffsbrüchiger der vor „Haifa“ nach einem Sprengstoffanschlag gesunkenen SS „Patria“ nach Palästina. Hanni Ert hatte sich mit Joachim 1939 im Umschulungs- und Einsatzlager am Grünen Weg in Paderborn auf die Auswanderung (Haschara) vorbereitet. Wegen einer Krankheit konnte sie den vorgesehenen Transport nicht antreten, die Ausreise gelang ihr später nicht mehr. Sie heiratete 1940 den aus Posen stammenden Gerhard Ruschin, den sie in Paderborn kennengelernt hatte, und lebte mit ihm in der elterlichen Wohnung in der Elsässer Straße 52. Hans Ert arbeitete bis 1938 in der Metallindustrie, verlor dann aber seine Anstellung aus rassistischen Gründen. Er wurde 1940 zu Zwangsarbeit in den Siemenswerken verpflichtet, bis er 1942 in Berlin untertauchte und in der Illegalität weiterlebte. Ein Neffe Marthas, Herbert (*1909), Sohn von Leos Bruder Max Ert, war in den 1940er-Jahren ebenfalls untergetaucht und hielt sich versteckt in Berlin auf.

Martha und Leo hielten in den 1930er-Jahren unter immer schwieriger werdenden Bedingungen ihr Back- und Konditorgeschäft in Berlin aufrecht, hauptsächlich durch die Engros-Belieferung von Wiederverkäufern mittels der Backstube an der Grenadierstraße, in der weiterhin ein bis zwei Angestellte beschäftigt waren. Ab Mitte der 1930er-Jahre diente die Filiale außerdem als „Backlehrstätte für junge Leute, die sich zur Auswanderung nach Palästina vorbereiteten“. Noch 1938 wurde zeitweise ein Ladenlokal in der Flensburger Straße im Hansaviertel angemietet, in welchem Gebäck verkauft wurde. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ musste der Betrieb Ende 1938 gezwungenermaßen eingestellt werden. Marthas Ehemann wurde zu Zwangsarbeit herangezogen: Ab Anfang der 1940er-Jahre musste er als Arbeiter bei der Städtischen Straßenreinigung in Berlin Dienst verrichten.

Marthas Tochter Hanni war Zwangsarbeiterin im Wernerwerk von Siemens & Halske, wo sie als Wicklerin tätig war. Ihr Ehemann Gerhard war Zwangsarbeiter im Barackenbau bei dem Unternehmen Willi Müller. In der Wohnung in der Elsässer Straße 52 waren zum Zeitpunkt der Volkszählung im Mai 1939 neben Martha und Leo auch Tochter Hanni – ab 1940 mit ihrem Ehemann Gerhard Ruschin –, Sohn Hans, dessen erste Ehefrau Elli, geb. Gimpel und deren Tochter Vivian Ert (*1938) sowie zwei jüdische Untermieter gemeldet. Vivian hat ab dem Zeitpunkt als ihr Vater in die Illegalität ging, bei den nichtjüdischen Eltern ihrer Mutter gelebt. Sie erinnerte sich später aber an Martha und Leo Ert: 

„Bevor das traurige Ende kam, nahm mich meine Mutter, Elli Ert, viele Male zu Besuch zu unseren Großeltern. Opa Leo war recht groß gewachsen und Oma war winzig, wenn sie neben ihm stand. Sie begrüßten uns mit einem Lächeln und mit offenen Armen. Oma nahm Mutti und mich in die Küche, wo ich mit Töpfen spielte, während sie meine Lieblingssüßigkeit zubereitete. Unser Opa las mir gerne eine Geschichte vor, während ich mit seiner Taschenuhr spielte.“

Spätestens ab den 1940er-Jahren wurde das Leben für die Familienmitglieder Ert in Berlin zum reinen Existenzkampf. Gesetze und Sondererlasse machten sie zu Rechtlosen im eigenen Land. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich gemäß der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 informierte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Martha und Leo sowie Tochter Hanni und deren Ehemann Gerhard erhielten den Deportationsbescheid im Winter 1942. Sie wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und am 9. Dezember 1942 mit dem „24. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Die 61-jährige Martha Ert und der zwei Jahre ältere Leo wurden vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports in Auschwitz ermordet. Hanni und Gerhard Ruschin sind entweder sofort, oder zunächst als Häftlinge in das Lager selektiert und später ermordet. In jedem Fall gehörte keiner der vier zu den wenigen Überlebenden von Auschwitz.

Marthas Töchter Margot, verh. Schneuer, und Hilde, verh. Sheeloh, überlebten genauso wie ihr Sohn Joachim Ert die NS-Verfolgung im Exil in Palästina. Hans Ert gelang 1944 die Flucht aus Deutschland. Er erreichte mit falschen Papieren die italienische Grenze und überlebte in Mailand. Marthas Neffe Herbert Ert wurde, nachdem er sich zwei Jahre in Berlin hatte verstecken können, bei einem Besuch eines Pferderennens von einem Gestapo-Informanten enttarnt und vor Ort verhaftet. Er wurde im April 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Dort war sein Vater Max Ert (*1881) bereits im August 1943 ermordet worden. Marthas Schwägerin Käthe Ert, verh. Reichstein, war 1938 nach Bentschen (Zbąszyń) deportiert worden und wurde 1942 im Vernichtungslager Belzec ermordet. Ihre Schwester Lina Loevinsohn war bereits 1927 in Berlin verstorben. Deren Ehemann Max Loevinsohn (*1875) wurde 1942 in Sachsenhausen ermordet, ihr gemeinsamer Sohn Berthold Loevinsohn (*1907) mit dem dreijährigen Denny (*1940) im Dezember 1943 in Auschwitz.