Gertrud Eisner née Lesser

Location 
Klingelhöfer Straße 18
District
Tiergarten
Stone was laid
06 June 2013
Born
09 February 1863 in Berlin
Deportation
on 23 July 1942 to Theresienstadt
Murdered
07 February 1943 in Theresienstadt

Gertrud Lesser wurde am 9. Februar 1863 als Tochter des Kaufmanns Julius Bernhard Lesser (1829–1876) und seiner Ehefrau Amalie Reichenheim, verh. Lesser (1843–1923), in Berlin geboren. Ihr Großvater mütterlicherseits war der preußische Landtagsabgeordnete und Mitbegründer der Nationalliberalen Partei Leonor Reichenheim (1814–1868); ihr Großvater väterlicherseits der Dichter und Publizist Ludwig Lesser (1802–1867). Ihre Eltern heirateten 1862 in Berlin und bezogen nach der Hochzeit eine gemeinsame Wohnung in der Victoriastraße 35 (heute überbaut, auf der Höhe Ben-Gurion-Straße 6) in Berlin-Tiergarten. Ihr Vater führte ein Importwaren-Textilgeschäft für englische Stoffe, Garne und Twiste, dessen Kontor sich im Stadtzentrum Am Kupfergraben 6a gegenüber der Museumsinsel befand. Mit dem Geschäft bestritt er den Unterhalt der Familie. Gertrud wuchs im Kreis von mindestens drei jüngeren Geschwistern auf: Ihre Schwestern Cäcilie Dorothea und Else Bertha wurden 1865 und 1870 in Berlin geboren, ihr Bruder Rudolf Leonor im Jahr 1869. 1866 zog die Familie in eine größere Wohnung an der Adresse Bendlerstraße 26 (heutige Stauffenbergstraße) auf dem Areal der ehemaligen Eisenfabrik Thomas.

Nach dem Tod des Vaters – Gertrud war 12 Jahre alt – bezog die verwitwete Mutter Amalie mit ihren Kindern 1878 erneut die Wohnung in der Victoriastraße 35. Die Familie zählte im Berlin der Kaiserzeit zur wohlhabenden Bürgerschicht, auch nach dem Tod des Vaters. Auf die Erziehung und kulturelle Bildung der Kinder wurde besonderer Wert gelegt. Sie umfasste ein bildungsbürgerliches Spektrum, das von musikalischer Ausbildung über die Kenntnis von Literatur bis zu zeitgenössischer Kunst reichte. Über die schulische Laufbahn von Gertrud Lesser haben sich keine Zeugnisse erhalten. Ihr Bruder wurde in der elterlichen Wohnung und auf einer Privatschule unterrichtet, bevor er ein Charlottenburger Gymnasium besuchte.

Es bleibt auch unbekannt, ob Gertrud eine berufliche Ausbildung erhielt, bevor sie als 20-Jährige am 17. Oktober 1883 in Berlin den Kaufmann Hugo Eisner heiratete. Hugo war der Sohn von Isaak Isidor Eisner (1822–1885) und Alwine Eisner, geb. Schlesinger (1827–1875) und führte in den 1880er-Jahren mit seinem Vater bis zu dessen Tod, seinem Bruder Georg und einem weiteren Geschäftspartner namens S. Kirchheim ein Großhandel-Manufakturwarengeschäft, Eisner & Kirchheim, in der Jerusalemer Straße 19/20. Gertrud und Hugo Eisner nahmen sich nach der Hochzeit eine gemeinsame Wohnung in der Dessauerstraße 2 in Kreuzberg. 1892 zogen sie ins alte Tiergartenviertel in eine Wohnung in der zweiten Etage der Regentenstraße 16 (heute überbaut). Das Geschäft verlegte Hugo Eisner in den 1890er-Jahren in die Jerusalemer Straße 38/39 und führte es ab 1894 als alleiniger Inhaber, bis er im Jahr 1902 verstarb. Gertrud Eisner lebte noch bis 1904 als Witwe in der Regentenstraße 16, bevor sie zu ihrer Mutter in die elterliche Wohnung in der Victoriastraße 35 zog. Nach seinem Chemie-Studium in Straßburg und seiner Promotion zog auch ihr Bruder Rudolf Lesser in die Wohnung mit ein. 1912 zog das Geschwisterpaar mit der Mutter in eine Achtzimmerwohnung in der Von-der-Heydt-Straße 8 im Ortsteil Tiergarten. Seit dem Tod der Mutter 1923 teilten sich die Geschwister die Wohnung, wobei Gertrud die vorderen Zimmer, Rudolf ein Arbeitszimmer und ein Herrenzimmer im hinteren Korridor bewohnte. Die Wohnung war stilvoll nach dem Geschmack der Zeit eingerichtet mit vielen Kunstgegenständen, Ziermöbeln und einer äußerst umfangreichen Bibliothek. Die Affinität zu Kunstgegenständen teilten die Geschwister mit ihrer Schwägerin Margarete Oppenheim, die zusammen mit ihrem Ehemann und unter Vermittlung des Berliner Kunsthändlers Paul Cassirers (1871–1926) eine der bedeutendsten Kunstsammlungen französischer Impressionisten aufgebaut hatte. Das Ehepaar veranstaltete in ihrer Villa am Großen Wannsee Soiréen für einen künstlerisch ambitionierten Freundeskreis, zu dem auch Naturwissenschaftler wie Albert Einstein zählten. Im Jahr 1913 adoptierte Gertrud Eisner ein 1902 in Dortmund geborenes Mädchen namens Maria, die seitdem mit in der Wohnung in der Von-der-Heydt-Straße 8 lebte. Bei der Haushaltsführung ging dem Geschwisterpaar eine Hausangestellte zur Hand, die ein Zimmer in der Wohnung bewohnte. Beide Geschwister waren evangelisch getauft.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Gertrud Eisner und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war Berlin zum Schauplatz antisemitischer Ausschreitungen geworden, Anfang der 1930er-Jahre nahm die sichtbare Brutalität in Form von Straßenkämpfen, Saalschlachten und SA-Aufmärschen in den Straßen massiv zu. Ab 1933 institutionalisierte sich der Rassismus schließlich mittels staatlicher Autorität. Gesetze und Sondererlasse drängten Gertrud Eisner zunehmend in die Position einer Rechtlosen. Ob das Geschwisterpaar in den 1930er-Jahren Pläne verfolgte, Deutschland zu verlassen, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Sollten sie konkrete Schritte in diese Richtung unternommen haben, so scheiterten diese. Spätestens Anfang der 1940er-Jahre wurde das Leben für sie in Berlin zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich gemäß der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

In vorausschauender Umsicht überschrieb Gertrud Eisner im Oktober 1941 ihren Besitz an ihre nach NS-Kriterien „arische“ Adoptivtochter Maria Heinzmann und ihren ebenso „arischen“ Ehemann Kurt Walter Heinzmann (*1902). Die notariell beglaubigte Schenkung sollte später willkürlich ignoriert und das Vermögen – darunter, Wertpapiere, Kontoguthaben, Mobiliar und andere Wertgegenstände – vom NS-Staat beschlagnahmt werden. Gertrud Eisner bezog nach dem Tod ihres Schwagers Georg eine Rente aus seinem Nachlass und eine Rente durch ihren verstorbenen Mann. Sie hatte außerdem in Aktiengesellschaften investiert und sich ein Kapitalvermögen für die Altersvorsorge angespart. Seit Dezember 1938 konnte sie jedoch nicht mehr frei über ihr Vermögen verfügen. Mit der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ war ein Depotzwang eingeführt worden und Gertrud war gezwungen, ihre Papiere einer Devisenbank zu übertragen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 informierte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Gertrud und Bruder Rudolf erhielten den Deportationsbescheid im Sommer 1942. Sie wurden zunächst im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert und von dort am 23. Juli 1942 mit dem sogenannten „28. Alterstransport“ in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Die zum Zeitpunkt der Deportation 79-Jährige überlebte die unmenschlichen Bedingungen in Theresienstadt nur wenige Monate, bevor sie am 7. Februar 1943 ermordet wurde – entweder infolge direkter oder indirekter Gewalteinwirkung mittels planvoller Mangelernährung, versagter Medikamente, Kälte und körperlichen Misshandlungen. Ihr Bruder war, wenige Tage zuvor, am 19. Januar 1943 ebenfalls in Theresienstadt ermordet worden. Zusammen mit dem Geschwisterpaar war auch ihre langjährige Hausangestellte, Johanna Löwenthal (*1879) nach Theresienstadt deportiert worden. Sie wurde am 16. Mai 1944 aus Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie ebenfalls ermordet wurde.

Von Gertrud Eisners Familienangehörigen überlebten nur wenige die NS-Verfolgung. Die Schwester Else Bertha Lesser, verh. Freund, war Philosophiedozentin gewesen und hatte als Witwe in Frankfurt am Main gelebt. Sie wurde am 20. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert und ermordet. Die andere Schwester, Cäcilie Dorothea, verw. Munde, hatte mit Else Bertha in einer gemeinsamen Wohnung gelebt und war am 25. Januar 1941 in Frankfurt verstorben. Gertruds Adoptivtochter Maria Heinzmann überlebte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern den Krieg und lebte später in Dortmund.