Sara Enke née Reschke

Location 
Karl-Marx-Allee 36
Historical name
Große Frankfurter Straße 75
District
Mitte
Stone was laid
22 March 2014
Born
05 September 1896 in Berlin
Occupation
Näherin
Deportation
on 02 March 1943 to Auschwitz
Murdered
in Auschwitz

Sara Reschke wurde am 5. September 1896 in Berlin als Tochter des Kaufmanns Salomon und Julie Reschke, geb. Kasse, geboren. Ihr Vater (*1862) stammte aus Konin (heute in Polen gelegen) an der Warthe, ihre Mutter 1860 aus Liebstadt (heute Miłakowo, Polen). Sie hatten im November 1887 in Liebstadt geheiratet und sich danach in Berlin niedergelassen. Sara wuchs mit einer älteren Schwester namens Tessa auf, die 1893 in Berlin zur Welt kam. Eine weitere Schwester, Helene (*1890) starb noch im Kleinkindalter vor Saras Geburt. Zum Zeitpunkt der Geburt von Sara lebte die Familie in einer Wohnung in der Großen Hamburger Straße 2 im Scheunenviertel der Berliner Innenstadt. Saras Vater führte ein kleines Warenhaus für Manufakturwaren, Weiß- und Wollwaren, Trikotagen sowie Emaille-, Glas- und Porzellanerzeugnisse zuerst in der Putbusser Straße in Prenzlauer Berg, dann nach der Jahrhundertwende in der Rüdersdorfer Straße 51 in Friedrichshain.

Über die Kindheit von Sara und ihrer Schwester im Berlin der Kaiserzeit haben sich keine weiteren Informationen erhalten, außer dass Sara Reschke und vermutlich auch ihre Angehörigen gehörlos waren – im damaligen Jargon „taubstumm“, obwohl davon auszugehen ist, dass sie Gebärden- oder Lautsprache beherrschten. Ihre Eltern gehörten aller Wahrscheinlichkeit nach zur jüdischen Gemeinde Berlins. Sara Reschke lernte vermutlich Gebärdensprache in der Israelitische Taubstummen-Anstalt (ITA), die seit 1888 in Weißensee ihren Sitz hatte (Die ITA war 1873 von dem Pädagogen Markus Reich (1844–1911) gegründet worden und widmete sich der Ausbildung gehörloser jüdischer Kinder). Nach ihrer Schulausbildung erlernte sie den Beruf einer Näherin und war als solche in Berlin tätig.

Am 18. Juli 1925 heiratete die 28-Jährige den zwei Jahre jüngeren Berliner Schneider Fritz Reinhold Enke. Reinhold war der Sohn von Paul und Maria Emilie Enke, geb. Lehmann, und ebenfalls gehörlos. Die Ehe hielt nicht lange. 1928 ließ sich das Ehepaar scheiden. Bis dahin kamen zwei Kinder zur Welt: Am 13. September 1926 wurde ihre Tochter Judith geboren und am 31. März 1928 ihr Sohn Norbert. Nach der Scheidung lebten die Kinder bei ihrer Mutter, die nicht wieder heiraten sollte. Zu ihrem Vater, der 1939 erneut heiratete, hatten sie wenig Kontakt. Sara lebte mit ihren Kindern im Berlin der Weimarer Republik in bescheidenen Verhältnissen – ein Umstand, der auch dadurch verschlechtert wurde, dass die Unterhaltszahlungen des Vaters für die Kinder ausblieben.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Sara Enke und ihre Familie. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Die alleinerziehende Mutter war außer ihren jüdischen Wurzeln auch durch ihre Gehörlosigkeit im Fokus nationalsozialistischer Verfolgung. Auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden zwischen 1934 und 1945 etwa 350.000 Menschen im Deutschen Reich zwangssterilisiert – darunter etwa 15.000 Gehörlose. Ab Ende der 1930er-Jahre begannen mit der Aktion T4 die systematische Ermordung von Kranken, die unter dem Begriff „Euthanasie“ bekannt wurde.

Im Juli 1933 ließ Sara ihre beiden Kinder evangelisch taufen. Sie galten nach den rassenideologischen NS-Kriterien durch ihre nichtjüdischen Großeltern väterlicherseits als „Mischlinge 1. Grades“. Ob Sara sich selbst auch taufen ließ, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Ebenfalls bleibt es im Dunkeln, ob sie in den 1930er-Jahren versuchte, mit ihren Kindern aus Deutschland zu entkommen. Sollte sie konkrete Schritte unternommen haben, so scheiterten diese. Für ihre Existenz und die ihrer Kinder sorgte Sara in den 1930er-Jahren durch ihre Tätigkeit als selbstständige Näherin in Berlin. Sie lebte mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung – Stube und Küche – in der Großen Frankfurter Straße 75 (der heutigen Karl-Marx-Allee) in Friedrichshain.

Ende der 1930er-Jahre wurde Saras Schwester Tessa Reschke, inzwischen verheiratete Himmelfarb, ihr Ehemann Jakob (*1889) und ihre Kindern Norbert (*1921) und Judith (*1927) aus ihrer Berliner Wohnung in der Elsässer Straße 57 in Mitte – vermutlich im Zusammenhang mit der sogenannten „Polenaktion“ – über die Grenze abgeschoben. Judith Enke begann in den 1940er-Jahren eine Berufsausbildung; ihr Bruder besuchte bis 1943 eine Berliner Schule und begann anschließend eine Schneiderlehre. 1939 wurde Sara gezwungen, ihre selbstständige Tätigkeit aufzugeben und wurde zu Zwangsarbeit verpflichtet; zuletzt als Arbeiterin in der für ihren unmenschlichen Umgang mit jüdischen Zwangsarbeiterinnen berüchtigten Köpenicker Großwäscherei W. Spindler A. G. – Färberei und chemische Reinigung in Spindlersfeld. Spätestens in den 1940er-Jahren wurde das Leben für Sara Reschke in Berlin zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sie sich mit der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 informierte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Sara Reschke wurde im Rahmen der „Fabrik-Aktion“, bei der die letzten offiziell in der Hauptstadt verbliebenen Juden deportiert werden sollten, im Frühjahr 1943 von der Gestapo an ihrem Arbeitsplatz in Spindlersfeld verhaftet und in ein provisorisch hergerichtetes Sammellager in Berlin verschleppt. Ihre Tochter Judith schilderte später die Situation: 

An einem Sonnabend im Februar 1943 kamen ich von meiner Lehrstelle und mein Bruder von der Schule nach Hause. Unsere Mutter trafen wir dort nicht an. Als sie sich am Sonnabendvormittag immer noch nicht eingefunden hatte, begaben wir uns zum nächsten Polizeirevier, um uns nach dem Verbleib der Mutter zu erkundigen.

Da sie auf dem Wache keine Auskunft erhielten und in einem Nebenraum warten sollten, wo bereits andere Hilfesuchende zusammengepfercht worden waren, schlichen sich die beiden Jugendlichen bei einer günstigen Gelegenheit aus der Dienststelle. „Am Sonntag gingen wir in unserer Not zu unserem Vater, der von der Mutter geschieden war und berichteten, was geschehen war. Vater erhielt unsere Schlüssel zur Wohnung, um noch für uns Bekleidung zu holen. Er kam jedoch zurück ohne Sachen.“ Nachbarn hatten Reinhold Enke gewarnt, die Wohnung zu betreten, die von der Gestapo versiegelt worden war.

Sara Reschke befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Sammelstelle, wo sie eine obligatorische, 16-seitige Vermögenserklärung auszufüllen hatte, die dazu diente, ihre letzten Habseligkeiten nach der Deportation zu beschlagnahmen und zu verwerten. Es ist unklar, inwieweit sie die einzelnen Schritte aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nachvollziehen konnte oder ob es Ausdruck eines passiven Widerstandes war, dass sie sich dem Verfahren, soweit möglich, entzog. Jedenfalls notierten NS-Handlanger im Sammellager auf ihrer Erklärung: „Frau Enke ist taubstumm. Angaben wurden aus Kennkarte entnommen, sowie aus der polizeilichen Meldung, soweit Verständigung nicht möglich.“ Am 2. März 1943 wurde die damals 46-Jährige aus Berlin mit dem „32. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft des Transports – ermordet.

Ihr vierzehnjähriger Sohn Norbert wurde nach der Deportation im Jugendheim Rummelburg untergebracht, wo er – wie er später angab – schikaniert und drangsaliert wurde und sich schließlich in einer solch prekären Lage wiederfand, dass er gezwungen war, die von ihm begonnene Textillehre aufzugeben und sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Norbert Enke überlebte den Krieg und war Mitgründer des Gehörlosenverbandes Berlin e. V., dessen erster Vorsitzender er wurde. Saras Tochter Judith überlebte ebenfalls den Krieg und lebte später als verheiratete Förster in Recklinghausen-Süd in Nordrhein-Westfalen. Saras Schwester Tessa Himmelfarb, ihr Ehemann Jakob und ihre Tochter Judith überlebten die NS-Verfolgung nicht. Sie wurden in einem der östlichen Ghettos oder Vernichtungslager ermordet. Tessas Sohn Norbert konnte sich der Verfolgung entziehen und lebte später in Israel.