Ruth Horn

Location 
Großbeerenstr. 92
District
Kreuzberg
Stone was laid
01 July 2010
Born
18 May 1930 in Brandenburg/Havel
Deportation
on 14 October 1943 to Auschwitz
Murdered
in Auschwitz

Ruth Horn wurde am 18. Mai 1930 in Brandenburg an der Havel als Tochter des Bürstenmachers Chaim (1902-1943) und dessen Ehefrau Martha Horn, geb. Stanger (1903-1943), geboren. Ruths Vater stammte aus Petrikau (heute Piotrków Trybunalski, Polen). Nach dem Ersten Weltkrieg war Chaims Familie nach Brandenburg an der Havel übergesiedelt, wo er nach Beendigung der Volksschule eine Lehre zum Bürstenmacher absolviert hatte und seit 1920 als angestellter Bürstenmacher in der Brandenburger Bürstenwarenfabrik arbeitete, als er die aus dem österreichischen Sieniawa (heute Polen) stammende Martha Stanger kennenlernte und im Dezember 1922 in Berlin heiratete. Nach der Hochzeit nahmen sich Ruths Eltern eine gemeinsame Wohnung in der Kleinen Gartenstraße 33 in Brandenburg an der Havel, wo im Oktober 1926 Ruths älterer Bruder Max zur Welt kam.

Nach einer Umstrukturierung in der Bürstenfabrik und dem Verlust seiner Arbeitsstelle machte sich Chaim als Bürstenmacher selbstständig. Er erwarb 1926 eine in Konkurs gegangene Bürstenwarenfabrik in der Kurstraße 26 sowie das Mietshaus Wollenweberstraße 41, in der die Familie Horn eine Wohnung bezog, mitsamt Bürstenwarenhandlung im Erdgeschoss. Als Ruth 1930 zur Welt kam, sicherte das Unternehmen ihres Vaters, Brandenburger Bürsten-Industrie C. Horn, der Familie die Existenz. Chaim hatte inzwischen auch seine Frau Martha als Bürstenmacherin angelernt, so dass sie zusammen den Familienbetrieb führten. Nach späteren Familienangaben entwickelte Chaim auch ein Patent für eine Art Weichenbesen, der während der Fahrt Eisenbahnschienen von Schnee reinigen konnte, und verkaufte seine Erfindung an die Brandenburger Eisenbahnverwaltung.

Ruth wurde von ihrer Großmutter Rosa Stanger, geb. Kupfermann (1876–1954), als außerordentlich aufgewecktes und intelligentes Kind beschrieben, die der verwitwet in Berlin lebenden Rosa bei Familienbesuchen große Freude bereitete. Sie berichtete auch, dass Ruth sehr hilfsbereit war und ihre Mutter bereits in sehr jungen Jahren im Haushalt unterstützte.

Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüd*innen ab 1933 – beziehungsweise aller Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen im NS-Staat als Juden galten – begannen auch staatliche Zwangsmaßnahmen gegen Ruth Horn und ihre Angehörigen. Darunter fielen zahlreiche Maßnahmen der Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung, des Entzugs staatsbürgerlicher Rechte sowie der Verdrängung aus dem Berufs- und Wirtschaftsleben. Ruth erfuhr die Diskriminierung aufgrund ihrer Geburt als Tochter jüdischer Eltern unmittelbar im Bildungswesen: Die Rassentrennung ab 1935 und das Schuldverbot an öffentlichen Schulen ab 1938 versperrten ihr den Zugang zu Bildungseinrichtungen. Ihre Bruder Max war zu Ostern 1934 noch in der Volksschule in der Jahnstraße 19 eingeschult worden. Auch das Geschäft der Bürstenfabrik lief in den 1930er-Jahren unter immer schwierigeren Bedingungen. Ruths Eltern gerieten in eine finanzielle Notlage, weil Bewohner der Wollenweberstraße 41 aus rassistischen Gründen die Miete einbehielten, Kunden ihre Verträge annullierten und Banken den Kredit verweigerten. Nach den Pogromen 1938 verlor Chaim aufgrund der eingeleiteten antijüdischen Maßnahmen seine Gewerbeerlaubnis und musste 1939 Haus und Geschäft weit unter Preis zwangsverkaufen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden Chaim und Martha außerdem von der Gestapo in ihrer Wohnung verhaftet und bis zum nächsten Tag in Potsdam festgehalten. Die damals achtjährige Ruth und ihr zwölfjähriger Bruder Max blieben alleine und weinend in Brandenburg an der Havel zurück, wie ihre Tante Frieda Stanger später schilderte. In Potsdam waren die Personalien aufgenommen worden. Allen Familienmitgliedern, auch den in Deutschland geborenen Kindern, wurde aufgrund der Herkunft von Chaim die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie wurden für „staatenlos“ erklärt.

Im Sommer 1939 verließ die Familie aufgrund dieser Erlebnisse Brandenburg und versuchte in den nachfolgenden Monaten vergeblich, mit der Hilfe der jüdischen Gemeinde in Berlin ihre Auswanderung nach Bolivien zu organisieren. Chaim arbeitete zeitweise in der Landwirtschaft, um sich auf die Auswanderung vorzubereiten. Gleichzeitig bemühte sich Marthas Schwester Frieda, die über Frankreich in das britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert war, bei den dortigen Behörden ein Ausreisezertifikat für ihre Angehörigen zu bekommen. Doch auch diese Bemühungen scheiterten. Ruth und ihr Bruder Max besuchten unterdessen in Berlin ab Oktober 1939 die Schule der Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel. Die Familie kam zunächst in einer Wohnung in der Krausnickstraße 17 in Mitte unter und bezog ab 1941 eine Kellerwohnung in der Großbeerenstraße 92 in Kreuzberg, in einem Haus, in welchem sich vormals die Produktionsräume der Bürstenwerkstatt von Otto Weidt (1883–1947) befunden hatten. Der Fabrikant half seinen verfolgten jüdischen Arbeitern, von denen einige blind waren. Nach dem Umzug der Werkstatt vermittelte er die Räume als Wohnung an Karl Deibel, der hier Juden und politisch Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes versteckte. Die Hausverwalterin Emma Trostler unterstützte ihn dabei, besorgte Lebensmittel und beschäftigte einige Untergetauchte illegal in ihrer Wäscherei. Otto Weidt gab der Familie Horn mit der Wohnung nicht nur eine günstige Unterkunft, sondern beschäftigte Chaim auch als Leiter der Zurichterei, in der Rosshaar und Borsten zur Weiterverarbeitung aufbereitet wurden, seiner neuen Bürstenwerkstatt in der Rosenthaler Straße 39. Ruths Bruder Max wurde als Lehrling eingestellt.

Spätestens in den 1940er-Jahren wurde das Leben der Familie Horn in Berlin zum reinen Existenzkampf. Um nur eine der vielen einschneidenden Maßnahmen zu nennen, konnten sich die Familienmitglieder einschließlich der erst elfjährigen Ruth gemäß der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 „über die Kennzeichnung der Juden“ nur noch mit stigmatisierendem „Judenstern“ in der Öffentlichkeit bewegen. Ruths Mutter musste in den Pertrix-Werken in Niederschöneweide Zwangsarbeit verrichten. Die Fabrik produzierte Trockenbatterien und Taschenlampen für den Wehrmachtsbedarf. Eine Schwangerschaft von Martha endete im August 1942 im Jüdischen Krankenhaus mit der Geburt eines toten Mädchens. Ruth hatte nach der Schließung des Schulwerks der Adass Jisroel, die Schule der jüdischen Gemeinde in der Rykestraße besucht. Im Juni 1942 wurden alle noch verbliebenen jüdischen Schulen geschlossen, so dass Ruth nun gar keine Möglichkeit mehr hatte, eine Bildungseinrichtung zu besuchen.

Der Entrechtung folgte die Deportation: Am 1. Oktober 1941 informierte die Gestapo die jüdische Gemeinde Berlins, dass die „Umsiedlung“ der Berliner Juden beginnen würde. Als die Horns Anfang 1943 ihre Deportation aus Berlin befürchteten, bat Ruths Vater seinen Arbeitgeber um Hilfe. Otto Weidt riet ihm, mit seiner Familie unterzutauchen und bot als Versteck einen fensterlosen Raum seiner Werkstatt, dessen Tür durch einen Kleiderschrank verstellt war. Die Familie ging im Februar 1943 in die Illegalität. Nachts waren sie in ihrem Versteck untergebracht, tagsüber arbeiteten sie in der Blindenwerkstatt.

Nach Monaten voller Entbehrungen und Angst wurde die Familie Anfang Oktober 1943 durch den jüdischen Gestapo-Greifer Rolf Isaaksohn verraten. Die Berichte zur nachfolgenden Razzia in der Blindenwerkstatt gehen auseinander. Die ebenfalls in der Werkstatt beschäftigte Inge Deutschkron erinnerte sich später, dass alle vier Familienmitglieder, Chaim, Martha, Max und Ruth Horn, während der Razzia verhaftet wurden, während unter anderem Otto Weidt und die ebenfalls verhaftete Alice Licht angaben, dass bei der Durchsuchung nur Max aufgegriffen wurde und sich die übrigen Familienmitglieder Horn nach der Verhaftung von Max am Folgetag freiwillig stellten. Ruth, ihre Eltern und ihr Bruder wurden im Sammellager in der Großen Hamburger Straße 26 interniert, wo sie am 13. Oktober 1943 jeweils eine Vermögenserklärung zur Vorbereitung der Deportation ausfüllen mussten, auf deren Grundlage ihre verblieben Habe beschlagnahmt wurde. Am 14. Oktober 1943 wurden Chaim, Martha, Max und Ruth Horn mit dem „44. Osttransport“ in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft – ermordet. Ruth war zum Zeitpunkt der Deportation dreizehn Jahre alt.

Ihre Großmutter Rosa und zwei ihrer Tanten, Frieda und Sabine Stanger, überlebten die NS-Verfolgung im Exil in Palästina. Eine weitere Tante Ida starb bei der Geburt ihres zweites Kindes 1943 in Bern. Ruths Tante Regina Stanger, verh. Drucker, wurde mit ihrem Ehemann Benzion, der vor dem Krieg als Bäcker in Lubaczów gearbeitet hatte, und ihren vier Kindern während der Verfolgungszeit ermordet.